Bildungspotenzial der Jugendarbeit

© Bao Truong via unsplash.com

Für sich selbst und das Leben lernen: Worin Jugendliche das Bildungspotenzial der Jugendarbeit sehen

Eine Jugendstudie bestätigt den Wert bildungsorientierter Jugendarbeit aus der Sicht derer, die es wissen müssen: den Jugendlichen selbst.

Daniel Weis, Anita Latz, Sandra Biewers

Im Rahmen einer empirischen Studie des Centre for Childhood and Youth Research (CCY) an der Universität Luxemburg wurden die Bildungserfahrungen Jugendlicher in der Offenen Jugendarbeit in Luxemburg untersucht. Die Offene Jugendarbeit ist ein exemplarisches Handlungsfeld der non-formalen Bildung, die neben der formalen Schulbildung in Luxemburg aktuell für bedeutend gehalten wird, wenn es um eine umfassendere Bildung von jungen Menschen geht. Die Studie zeigt, dass die Offene Jugendarbeit vielfältige förderliche Rahmenbedingungen für die Selbstbildung von Jugendlichen bereitstellt. Dabei ist sie auf ein ganzheitliches Verständnis von Bildung ausgerichtet, bei dem nicht eine messbare Leistung, sondern die Entwicklung der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit junger Menschen im Vordergrund steht. Worin Jugendliche das Bildungspotenzial der Jugendarbeit sehen, beschreibt dieser Policy Brief.

Bildungsorientierte Jugendarbeit bislang wenig erforscht

Die Studie befasst sich mit der Frage, welche Bildungserfahrungen junge Menschen im Jugendhaus machen und welchen Wert sie diesen Erfahrungen für sich selbst und ihre Zukunft beimessen.

Untersucht wird auch, wie und wodurch sich Jugendliche und junge Erwachsene in der Offenen Jugendarbeit bilden und in ihrer Persönlichkeit weiterentwickeln, d.h.,

  • aufgrund welcher Anlässe,
  • zu welchen Themen,
  • unter welchen Bedingungen und
  • mit welchen Auswirkungen.

Dabei wird von einem theoretischen Bildungsverständnis ausgegangen, bei dem Bildung weit mehr ist als der Erwerb von Wissen oder das Aneignen neuer Kompetenzen. Bildung wird vielmehr in einem umfassenden Verständnis als Subjektbildung (Scherr, 2021) verstanden.

Das heißt, dass junge Menschen als eigenständige Mitglieder und Gestalter ihrer Lebenswelt und der Gesellschaft im Ganzen betrachtet werden, die sie verstehen lernen und aus der heraus sie selbstbewusst zu eigenen Denk- und Handlungsweisen sowie Entscheidungen kommen (sollen).

In Anlehnung an den klassischen Bildungsbegriff Wilhelm von Humboldts kommt hier auch ein transformatorisches Bildungsverständnis (Koller, 2018) zum Ausdruck:

Bildungsprozesse entstehen dann, wenn ein Mensch verändert aus einer Erfahrung hervorgeht und dadurch neue Sichtweisen auf sich selbst und auf die Welt gewonnen hat.

Gerade der Offenen Jugendarbeit mit ihrem freiwillig nutzbaren Angebot wird vieles zugetraut, wenn es um die Förderung der Subjektbildung und der Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen geht.

Ob und wie ihr das gelingt, ist in Luxemburg jedoch bisher noch nicht ausreichend erforscht. Insbesondere darüber, wie Jugendliche Bildungsprozesse und -gelegenheiten in der Jugendarbeit wahrnehmen, ist noch wenig bekannt.

Maßgeschneiderter Forschungsansatz für komplexe Bildungsprozesse

Um dies wissenschaftlich zu untersuchen, wurden sieben luxemburgische Jugendhäuser ausgewählt, die sich hinsichtlich bestimmter Merkmale (z.B. Lage des Jugendhauses, Zielgruppe, Struktur der Teilnehmenden) unterscheiden.

Da Bildungsprozesse in der Jugendarbeit recht komplex sein können, wurden zur Datenerhebung qualitative und quantitative Verfahren miteinander kombiniert. Ein solches Mixed-Methods-Design ermöglicht ein umfassendes Bild des Untersuchungsgegenstandes. Es besteht aus drei Bausteinen:

  • teilnehmende Beobachtungen in den Jugendhäusern,
  • problemzentrierte Gruppeninterviews mit Jugendlichen,
  • Online-Befragung von Jugendlichen.

Die folgende Darstellung verdeutlicht, wie die Bausteine ineinandergreifen, die Sicht von Jugendlichen und Forschenden erfassen und zudem unterschiedliche Bildungsaspekte abbilden.

Bildungspotenzial der Jugendarbeit
Abbildung 1: Forschungsansatz (Quelle: eigene Darstellung der Autor:innen)

Die Ergebnisse: Offene Jugendarbeit unterstützt die Selbstbildung von Jugendlichen in vielfältiger Weise

Die Einblicke in die Interaktionen in den Jugendhäusern und die Erzählungen der Jugendlichen haben verdeutlicht, dass die Offene Jugendarbeit sehr vielfältige, aber häufig nicht auf den ersten Blick wahrnehmbare Bildungserfahrungen ermöglicht.

Auf der Grundlage der erhobenen Daten lässt sich ein Modell der transformatorischen Bildung in der Offenen Jugendarbeit ableiten, mit dem Bildungserfahrungen im Jugendhaus beschrieben werden können. Das Modell besteht aus den drei Elementen: der Ausgangslage (bestehend aus den Bildungsgegenständen und -themen sowie Bildungsanlässen), dem Bildungs- und Veränderungsprozess (unterstützt durch externe sowie interne Faktoren) sowie den Auswirkungen von Bildungserfahrungen und kann wie folgt dargestellt werden:

Bildungspotenzial der Jugendarbeit
Abbildung 2: Modell der transformatorischen Bildung in der Offenen Jugendarbeit (Quelle: eigene Darstellung der Autor:innen)

1. Wo Offene Jugendarbeit ansetzt: Die Anlässe von Bildungserfahrungen

Jugendliche bringen subjektiv bedeutsame und biografisch relevante Bildungsgegenstände und -themen mit ins Jugendhaus, etwa familiäre Konflikte, schulische Herausforderungen, Fragen der Berufsorientierung, Beziehungs- oder Sachthemen.

Bildungsanlässe können demnach alle lebensweltlichen, biografischen, entwicklungs- und sozialisationsbezogenen Fragen und Herausforderungen sein, die das Aufwachsen umgeben.

Jugendliche nehmen solche Fragen häufig als kleinere oder größere „Krisen“ wahr, die sie (noch) nicht zu bewältigen gelernt haben. Diese Situationen erfordern also neue Wege der Wahrnehmung, Deutung und Bewältigung (Koller, 2018).

Die Offene Jugendarbeit, die sich an der Lebenswelt und der individuellen Situation der Jugendlichen orientiert, begreift diese Krisen als Bildungsanlässe und mithin als Ausgangslage für Veränderungsprozesse.

2. Wie Bildungs- und Veränderungsprozesse entstehen: Neues über sich selbst und die Welt erfahren und verarbeiten

In der Offenen Jugendarbeit finden die Jugendlichen einen geschützten Raum vor, in dem sie vielfältige neue Erfahrungen für ihre Persönlichkeitsentwicklung machen können.

Dort werden sie dabei unterstützt, neue Sicht- und Denkweisen sowie eigene Standpunkte zu entwickeln, über sich und die Welt nachzudenken und sich auch im Zusammensein mit anderen Jugendlichen auszuprobieren und neue Seiten an sich kennenzulernen. Aus den empirischen Daten lassen sich viele solcher Veränderungssituationen aufzeigen.

Die Daten weisen zudem auf förderliche Rahmenbedingungen sowie typische Ansätze und Arbeitsweisen der Jugendarbeit hin, mit denen Bildungs- und Veränderungsprozesse bei den Jugendlichen begünstigt werden können:

  • ein Miteinander, das auf Anerkennung und Wertschätzung basiert,
  • eine Atmosphäre, in der sich die Jugendlichen wohlfühlen,
  • eine den jungen Menschen zugewandte Haltung der Pädagog*innen und deren pädagogisches Handeln,
  • eine grundlegende Akzeptanz von „Schwächen“, die Raum für bewertungsfreies Experimentieren lässt,
  • ein vielfältiges pädagogisches Angebot,
  • eine partizipative Ausrichtung, die den Jugendlichen Gelegenheit zur Eigentätigkeit gibt, und
  • die Freiheit, entlang der eigenen Bedürfnisse zu lernen.

Neben diesen aus der Jugendarbeit resultierenden Bedingungen und Faktoren gibt es auch „interne“ Voraussetzungen auf Seiten der Jugendlichen, ohne die Veränderungsprozesse kaum möglich sind. Denn Bildung, die Aneignung von Neuem und die Veränderung des Verhältnisses zu sich selbst und zur Welt sind eigentätige und individuelle Prozesse. Sie erfordern vom Jugendlichen

  • die Bereitschaft und Motivation, sich auf Neues einzulassen,
  • den Wunsch nach Veränderung und nach Entwicklung,
  • individuelle Veranlagungen wie Neugier, Motivation und Offenheit gegenüber Fremden und Fremdem,
  • eine grundlegende Bereitschaft, sich selbst zu reflektieren und sich anderen mitzuteilen, sowie
  • das Vertrauen in die Fähigkeit, sich weiterzuentwickeln und sich die Welt aneignen zu können.

Durch ihre förderlichen Rahmenbedingungen erleichtert die Offene Jugendarbeit es den Jugendlichen, diese internen Bedingungen ausbilden zu können, die schließlich Bildungsprozesse ermöglichen.

3. Was bildungsorientierte Jugendarbeit bei Jugendlichen bewirkt: Sich verändern und weiterentwickeln

Bildungserfahrungen in der Offenen Jugendarbeit bewirken bei den Jugendlichen eine a) Veränderung des Welt-/Selbstverhältnisses, b) den Ausbau vorhandener Fähigkeiten sowie c) den Erwerb neuer Kompetenzen.

  1. Jugendliche, die im Jugendhaus Bildungserfahrungen gemacht haben, hinterfragen und verändern bisherige Haltungen, Einstellungen und Routinen. Dadurch ordnen sie ihre bisherigen Interpretationen und Einstellungen zu sich selbst und der Welt neu. Sie erweitern in den Gesprächen mit anderen und über die Interaktionen ihre Perspektiven und ihren Erfahrungshorizont. Dadurch werden sie sicherer im Umgang mit eigenen Problemen, Themen und Herausforderungen und stärken ihre Resilienz. Sie machen zudem wichtige Erfahrungen der Selbstwirksamkeit.
  2. Durch die nachhaltige Begleitung durch die Fachkräfte lernen die Jugendlichen, die eigenen Ziele und Interessen klarer zu sehen und zu verfolgen, für sich selbst einzustehen und den je eigenen Weg konsequent zu gehen.
  3. Die Jugendlichen erwerben und entwickeln im Jugendhaus vielfältige Kompetenzen, mit denen sie ihre Handlungsfähigkeit in unterschiedlichen Situationen steigern. Dies geschieht sowohl spielerisch als auch über soziale Lernformen oder konkrete Projektarbeit. Dabei ist das Spektrum der Möglichkeiten groß und bietet für alle Jugendlichen passgenaue Angebote.

Diese facettenreiche Selbstbildung befähigt junge Menschen somit, neue Aufgaben und Herausforderungen kompetent zu bewältigen und ein selbstbestimmtes und selbstverantwortliches Leben zu führen.

Bildungspotenzial der Jugendarbeit
Abbildung 3: Jugendhaus, Ort der Selbstbildung (Quelle: eigene Darstellung der Autor:innen)

Mehrwert der Studie

Die Studie konnte aus Sicht von Jugendlichen die Frage beantworten, wie Offene Jugendarbeit wirkt und wie junge Menschen von ihr profitieren. Darüber hinaus ist sie in ihrem komplementären methodischen Ansatz Forderungen nachgekommen, Jugendarbeit evidenzbasiert zu gestalten, also an den tatsächlichen Bedürfnissen und Lebensumständen junger Menschen anzusetzen.

Deutlich wurde, dass die Offene Jugendarbeit einen eigenständigen wichtigen Beitrag zur Bildung der jungen Menschen leistet, wobei das Verständnis von Bildung weit gefasst ist. Während schulische Bildung in erster Linie als Wissensvermittlung verstanden werden kann, liegt in der Jugendarbeit ein ganzheitliches Bildungsverständnis vor, bei dem die Entwicklung der selbstbestimmten Handlungsfähigkeit im Vordergrund steht.

Dadurch leistet die Studie auch einen Beitrag zur Validierung und Anerkennung non-formaler Bildung. Mit dem Bewusstsein des Wertes, der Stärken und des Potenzials der Offenen Jugendarbeit kann auch ihr Selbstverständnis und das der dort tätigen Professionellen gestärkt werden.

Was tun, damit Jugendarbeit gelingt?

Aus den Ergebnissen der Studie lassen sich folgende Empfehlungen ableiten:

Junge Menschen zur Partizipation und Emanzipation befähigen

In der Offenen Jugendarbeit spielt die Unterstützung junger Menschen bei der sozialen und beruflichen Integration durchaus eine Rolle, mehr noch aber ihre Emanzipation: Ziel und zentrale Aufgabe einer subjektorientierten Jugendarbeit sollte es daher sein, Jugendliche in eine Gesellschaft zu integrieren, die sie selbst mitgestalten können. Hierzu muss die Jugendarbeit sie befähigen und sie dabei unterstützen, sich als eigenständige, mündige, selbstbewusste Menschen in der Gesellschaft zu verorten.

In die Offene Jugendarbeit investieren

Damit möglichst viele Jugendliche in Luxemburg langfristig von ihr profitieren können, sollte die bildungsorientierte Offene Jugendarbeit weiter ausgebaut und gestärkt werden. Hierfür ist eine gute personelle, finanzielle und infrastrukturelle Ausstattung der Einrichtungen wichtig. Angesichts der herausragenden Bedeutung des pädagogischen Handelns und der pädagogischen Kompetenz erscheinen auch Investitionen in die Personalstruktur und die Aus- und Weiterbildung der professionell Tätigen überaus sinnvoll.

Partnerschaft zwischen formalen und non-formalen Bildungsangebote anbahnen

Jugendarbeit ist facettenreich und bedeutet mehr als „non-formale Bildung“ oder „außerschulische Bildung“. Vielmehr sollten der formale Wissenserwerb in der Schule und die non-formalen und informellen Bildungsmöglichkeiten in der Jugendarbeit stärker miteinander verzahnt werden, um Bildung so auf eine ganzheitlichere Basis zu stellen. Eine solche Partnerschaft auf Augenhöhe würde den Jugendlichen zugutekommen.

Offene Jugendarbeit als relevante Bildungsakteurin stärken

In Anbetracht der positiven Befunde, die die Studie hervorgebracht hat, sollte die Bedeutung der Offenen Jugendarbeit als wertvolle Bildungsakteurin für die junge Generation noch stärker herausgestellt werden. Dazu ist es wichtig, der Öffentlichkeit den Wert und das Angebot Offener Jugendarbeit zugänglicher machen, z.B. durch eine Image-Kampagne.

Schlagwörter